Gibt es Götter?

Gleich vorweg: dies ist ein sehr persönliches und damit einhergehend subjektives Essay. Was auch immer ich in diesen Zeilen schreibe und damit aussage, hat keinerlei allgemeingültigen Charakter und ist auf gar keinen Fall dogmatisch zu verstehen. Sollten diese Zeilen den oder die eine(n) oder andere(n) zum Nachdenken anregen, so ist es mir mehr als recht.

Vor ein paar Wochen war die Tochter unserer Nachbarn hier, um bei meiner Frau Nachhilfe in Mathematik zu nehmen. Als sie fertig waren, hatte sie noch Fragen zur Geschichte, was dann eindeutig mein Fachgebiet ist. Wir sprachen über das Römische Reich und kamen auf deren Götter zu sprechen. Da sie christlich erzogen wurde, kannte sie nur „ihren“ Gott, Jesus und den heiligen Geist. Das Nachhilfegespräch über Geschichte ging mehr und mehr in den theologischen Bereich, und irgendwann kam mir der Satz über die Lippen: „Götter sind Erfindungen der Menschen.“
Im ersten Moment habe ich mir nichts dabei gedacht, aber in den Tagen darauf ging mir der Satz mehr und mehr durch den Kopf. Natürlich sind Götter, ihre Bildnisse und Charaktere Erfindungen des menschlichen Geistes, das war mir stets bewusst. Trotzdem glaubte ich bisher an sie und trug Thorshammer und Valknut aus Überzeugung – bis jetzt. Mittlerweile habe ich die beiden Kettenanhänger abgelegt. Wenn überhaupt, sehe ich die Götter nur noch als Mittel zum Zweck, nämlich dem Zweck des heidnischen Glaubens. Ich selbst bezeichne mich noch immer als heidnisch, doch würde ich jemandem, der mich fragt, ob das Heidentum der Glaube an Thor und Odin ist, längst nicht mehr so deutlich mit „ja“ antworten, wie ich das bislang getan habe.
Für mich ist es unsinnig geworden, bei Ritualen Lebensmittel oder frisch gepflückte Blumen zu verbrennen, in dem Glauben, der Rauch der Opfergaben würde so zu den Göttern aufsteigen und sie somit wohlgesonnen zu stimmen. In meinem Verständnis ist dieses Verbrennen sogar ein gewisser Frevel, denn wenn es keine Götter gibt, dann braucht der Mensch auch keine Lebensmittel verbrennen, um die Götter damit zu beeindrucken. Eine Verbrennung von Lebensmitteln ist zum einen reine Verschwendung und darüber hinaus auch eine Schamlosigkeit gegenüber denjenigen Menschen, die nichts oder zu wenig zu essen haben.

Und jetzt stehe ich da, kann die typische heidnische Glaubensfrage „Wem opferst du?“ nicht mehr beantworten oder zumindest nur noch unzufriedenstellend beantworten, denn meine Antwort lautet mittlerweile: „Niemandem“. Trotzdem glaube ich immer noch an etwas Göttliches, an eine magische Kraft, die man spüren und fühlen kann.

WAS IST MEIN HEIDNISCHER GLAUBE?
Wenn es also für mich keine Götter gibt, ich mich aber trotzdem noch als Heide fühle, wie definiert sich dann mein heidnischer Glaube? Ich habe viel in den letzten Tagen darüber nachgedacht, vor allem während der Spaziergänge mit meinem Hund „Odin“ in der Natur. Obwohl überall um uns herum die Wälder sterben, weil bestimmte Baumarten nicht mehr genug Wasser bekommen und unter dem Befall der Borkenkäfer leiden, so habe ich doch einen wunderschönen, kleinen, grünen Wald in meiner Nähe entdeckt, in dem man die Natur so nah spüren kann wie nirgends sonst.

Für manche Heiden mag die Definition des Begriffes „Naturreligion“ zu einfach erscheinen, wenn man ihn mit einem deutlichen Bezug zur Natur erklärt. Für mich ist das aber genau der Kern der Sache. Wenn ich in der Natur unterwegs bin, spüre ich das Göttliche und die Kraft der Natur, die uns allen das Leben schenkt, die uns am Leben hält. Die Natur unseres Planeten zu respektieren und sie dementsprechend zu behandeln, ist für mich inzwischen zum Kern meines heidnischen Glaubens geworden. Nicht das Verbrennen von Lebensmitteln ist mein Opfer an das Göttliche, sondern das Einsammeln von Müll im Wald. Ich erweise einem überfahrenen Tier auf der Straße meinen Respekt, indem ich anhalte und das Tier von der Straße wegschaffe, damit es nicht von noch mehr Autos überfahren und bis zur Unkenntlichkeit plattgefahren wird und lege es abseits der Straße unter einen Baum oder einen Busch. Auch den Regenwurm auf einem Feldweg, dem das Plattfahren von Traktoren droht, nehme ich vom Weg auf und setze ihn am Wegesrand an eine Stelle, wo er sich gut in die Erde wühlen kann. Wir teilen ebenso unser Essen mit unseren Tieren. Unser Hund und unsere Katzen bekommen stets etwas von dem, was wir am Tisch essen. Wir behandeln unsere Haustiere nicht als Müllschlucker oder zum Kadavergehorsam erzogene „Bei-Fuß-Läufer“. Unser Hund muss keine „Begleithundeprüfung“ ablegen, sondern ist ein freies Wesen, das auf den Spaziergängen höchst selten an die Leine genommen wird. Der Garten hinter unserem Haus ist eine wild wachsende Wiese inmitten akkurat gemähter, gemulcherter und vertikutierter Vorzeige-Vorgärten mit Weber-Grill und unkrautfreien Blumenbeeten. In unserer wilden Wiese summen die Insekten und spielen die Katzen Verstecken. Ich genieße geradezu den missmutigen Blick unseres Nachbarn, wenn er mit seinem Aufsitzrasenmäher mit Mulchertechnik seinen Rasen an den Rand des Vertrocknens bringt und auf unsere wilde Naturwiese blickt.

Wie auch immer: Das Retten von Regenwürmern und das Einsammeln von Müll mögen vielleicht nur Tropfen auf einen heißen Stein sein, aber Respekt gegenüber der Natur lässt sich nicht in Effektivität messen, sondern ist für mich persönlich eine Sache der Einstellung, mit der ich meinen heidnischen Glauben an die Göttlichkeit der Natur, deren Teil wir sind, zum Ausdruck bringe.

Es kann gut sein, dass ich meinen Thorshammer schon bald wieder anlege, dann aber vor dem Hintergrund dessen, was ich hier geschrieben habe, nicht mehr aus dem Glauben an einen Gott namens Thor. Und so kann ich dann die Frage „Wem opferst du?“ vielleicht doch etwas konkreter beantworten – wohl nicht mit einem Götternamen, sondern vielmehr mit „Mutter Natur“.

Es ist auch ebenso gut möglich, dass mich meine Gedanken irgendwann wieder weitertragen, getreu dem Motto „Heute hier, morgen dort“. Trotzdem hoffe ich, meinem heidnischen Naturglauben treu bleiben zu können

WAS SIND GÖTTER?

Auch wenn es die Götter nicht gibt, so glaube ich dennoch an gewisse übermenschliche Kräfte, die uns, unsere Umwelt (und damit das gesamte Universum) beeinflussen. Götter gibt es erst seit wenigen Jahrtausenden, genauer gesagt: seit den Menschen.