Was „darf“ ich glauben?

Im Heidentum wird immer wieder betont, es gäbe keine Doktrin, keine Lehre oder was und wie man als Heide zu glauben habe. Meine Erfahrungen haben mich allerdings dazu gebracht, hinter diese Aussagen ein Fragezeichen zu setzen. Zu meinem Bedauern wurde und wird dieses Fragezeichen mit der Zeit immer größer, denn so frei, wie es immer gern behauptet wird, scheint der heidnische Glaube dann doch nicht zu sein.

Durch die Christianisierung im Frühmittelalter ging leider viel Wissen um den heidnischen Glauben verloren. Das, was überliefert ist, entnehmen wir den Schriften christlicher Mönche oder aber den wenigen archäologischen Funden. Durch die Schriften scheint vieles christlich eingefärbt, als Leser muss man diese Dinge für sich filtern oder aber mit anderen Heiden darüber diskutieren.
Ich habe inzwischen Diskussionen erlebt, in denen sich die Kontrahenten wohl an die Gurgel gegangen wären, hätte die Diskussion nicht im Internet, sondern von Angesicht zu Angesicht stattgefunden. Natürlich machen gerade dynamische Diskussionen eine lebendige Gemeinschaft aus, oftmals werden dabei aber Grenzen überschritten und von drei Diskussionsteilnehmern hält sich einer für schlauer als alle drei zusammen (!). Oder aber es werden interessierte Neulinge in einem Forum von den dort Alteingesessenen regelrecht angefahren, weil der Neuling es wagte, eine Frage zu stellen, die an anderer Stelle bereits diskutiert und beantwortet wurde. Auf die Idee, dass dieser interessierte Neuling mit seiner Frage nicht nur eine Antwort, sondern möglicherweise auch Kontakt zu Gleichgesinnten suchen könnte, kam der Alteingesessene nicht, sondern verpasste dem Fragesteller eine schroffe Abfuhr, so dass dieser sich fortan nicht mehr im Forum blicken ließ.
Den gleichen Umgang habe ich mit anders oder auch freier Denkenden erlebt. Einige „Oberheiden“ scheinen ganz offensichtlich jegliche heidnische Weisheit aus Eimern getrunken zu haben, anders kann ich mir deren überbordendes Selbstverständnis nicht erklären.

Diese Erfahrungen bringen mich nun nicht nur zu der Frage, was ich glauben „darf“, sondern auch, wie wir mit den verschiedenen Fundamenten unseres Glaubens umgehen.
Da sind einerseits die Überlieferungen der Sagen und die archäologischen Funde – kurz gesagt: das, was aus der Zeit des altheidnischen Glaubens übrig geblieben ist. Dabei handelt es sich leider nur um Fragmente – zu wenig, um den heidnischen Glauben unserer Altvorderen zu rekonstruieren und ihn so zu leben wie es unsere Ahnen taten.
Auf der anderen Seite gibt es seit ein paar Jahrzehnten die neuheidnische Bewegung, der wir ja alle irgendwie angehören und die die Relikte der Ausrottung des heidnischen Glaubens im Frühmittelalter versucht aufzunehmen und neu zu beleben. Dass diese Bemühungen leider allzu oft scheitern, liegt an den bereits erwähnten Gründen.
Wir haben also oftmals gar keine andere Wahl, als unseren Glauben mit neuen Inhalten zu füllen.
Die „neun Tugenden“ sind da für mich ein passendes Beispiel. Diese Tugenden wurden wohl erstmals vor über 40 Jahren in Großbritannien aufgestellt und formuliert und haben sich inzwischen etabliert. Doch anstatt sich darüber zu freuen, dass unser Glaube lebt und inhaltlich wächst, wird plötzlich darüber diskutiert, dass die neun Tugenden zu kurz gedacht und die wahren Tugenden ja viel ausführlicher im Havamal nachzulesen seien.
Gleiches gilt für das Symbol der Irminsul, jenes „palmenartige Gebilde“, welches dann auch noch von den braunen Horden missbraucht wurde (und wird), sich aber trotzdem bis heute durchgesetzt hat. Wir wissen nicht, wie die Irminsul ausgesehen hat, nicht einmal, wo sie tatsächlich gestanden hat. Trotzdem wird das Symbol von vielen Heiden angenommen und akzeptiert – die sich dann allerdings wieder für das Tragen und Zeigen des Symbols rechtfertigen müssen.

Ich persönlich finde es toll, einen lebendigen und wachsenden Glauben zu haben, anstatt den uralten Lehren alter und greiser Männer mit erhobenem Zeigefinger blindlings zu folgen.

Ich finde es toll, wenn Neuheiden sich Gedanken machen, friedlich und lebhaft über neue Inhalte diskutieren und geduldig mit interessierten Neulingen umgehen und sie an die Hand nehmen, anstatt sie mit einem schroffen „lies nach!“ wegzuschicken und zu vergraulen.

Wir können die alten Riten und Zeremonien nicht mehr aufleben lassen, sie sind verloren (sofern es überhaupt einheitliche Rituale und Zeremonien gegeben hat). Wir dürfen aber unserem Glauben Leben einhauchen und das nutzen, was noch übrig ist, wie z. B. das Symbol des Thorshammers. Gute Ideen und Vorschläge werden sich durchsetzen, weniger gute halt nicht. So filtern wir unsere eigenen Inhalte und geben unserem neuheidnischen Glauben Ausdruck und Form.

Wir entscheiden selbst, was und wie wir glauben und wir sollten uns auch unsere Freiheit diesbezüglich lassen. Ansonsten laufen wir noch Gefahr, dass sich ein „Oberheide“ tatsächlich zu noch Höherem berufen fühlt und den Zeigefinger der Moral ausstreckt.